Opernwelt 2007/2

 

Orpheus mit der E-Gitarre
Eine zeitgenössische ‚L'Orfeo'-Version in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel

Grüne Hügel gibt es nicht mehr. Eine Katastrophe, wahrscheinlich ein Atomunfall, hat alles in eine Sandwüste verwandelt. Zwei riesige Erdberge bestimmen die Szenerie. Das lautstarke Geschrammel und Gewimmere einer E-Gitarre zerreißt die Stille. Figuren mit bleichen Gesichtern und schwarz umränderten Augen wühlen sich aus dem Sand heraus. Und die E-Gitarre intoniert Claudio Monteverdis ‚L'Orfeo'-Tocata. Schon der Beginn macht klar: Dies ist das zentrale Instrument in der ‚L'Orfeo'-Bearbeitung des Dirigenten Titus Engel und des Komponisten Tobias Schwencke für die Aufführungen in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel.
Alle Musiker sind auf der Bühne postiert und werden zu Mitspielern: das kleine Streicherensemble mit je zwei Violinen und Violen, mit Cello und Kontrabass. Dazu gesellen sich ein ungarisches Cymbalon und ein Rhodes Piano. Engel und Schwencke versichern im Programmheft, dass die keine Note der Monteverdi-Vorlage verändert haben, als sie mit ihrer Bearbeitung n ach ‚heutiger Authentizität' suchten.
Schon in den Vorjahren hatten die beiden mit eigenwilligen Fassungen von Webers ‚Freischütz' und Mozarts ‚Don Giovanni' begeistert. Und auch mit ihrer ‚L'Orfeo'-Version gelingt es, die Kraft von Monteverdis Musik offenzulegen. So sehr man an manchen Stellen durchaus die originalen Blasinstrumente vermisst: Diese neue Version besitzt in ihrem Mut zu ebenso fahlen und schneidenden wie exotischen und reduzierten Klängen große Eindringlichkeit.
Dass die beiden Arrangeure eng mit Regisseur Andreas Bode zusammengearbeitet haben, spürt man. Da wird Orfeos Bittgesang ‚Possento spirito' am Eingang zur Unterwelt zu einer Jazz-Club-Szene: Gitarrist, Kontrabassist und Rhodes-Spieler skelettieren im Dämmerlicht lässig Monteverdis Musik, Zigarette im Mundwinkel, Bierflasche in Griffweite, während Orfeo tanzt und singt. Kein Tenor, sondern Sopranistin Catrin Kirchner ist Orfeo: Ihre androgyne Ausstrahlung und der höchst expressive Einsatz ihrer instrumental geführten Stimme machen sie zu einer Idealbesetzung.
Die Geschichte vom Ursänger Orpheus wird auf mehreren Ebenen erzählt. So auch als Reflexion darüber, woraus Musik sich speist. Zum Beispiel aus dem Leid: Als Orfeo seine Geliebte Euridice endgültig in der Unterwelt verloren hat, singt er zunächst wenige Töne, bricht ab, summt mit dem Gitarristen ein paar Takte, um dann sich und allen Schmerz mit seinem Lamento zu versenken. Doch selbst die Musik kann Orfeo irgendwann nicht mehr trösten, er packt das Instrument des ersten Geigers und schmettert es an die Wand. Der Geiger verlässt schimpfend die Bühne. Spiel im Spiel - Bode variiert dieses Mittel: Da wird der Mythos beschworen und zugleich gebrochen durch eine Erzählerin (Charlotte Pfeifer). Sie wendet sich in Brecht-Manie ans Publikum mit Kommentaren, Fragen und Ratschlägen („Haben Sie's schon mal mit Selbstmitleid probiert?"). Ein höchst überflüssiger Regie-Einfall.
Neben Kirchner als Orfeo teilen sich vier junge Sängerinnen und Sänger die anderen zehn Rollen, zugleich übernehmen alle Solisten die Chorpartien - angefeuert von Dirigent Titus Engel, der am Premierenabend alle musikalische Kräfte zu einem spannungsreichen Miteinander bündelte.

Dagmar Penzlin