Die Welt, 10.12.05

 

Die Oper der Opern als Feier des Menschen
Andreas Bodes Inszenierung des "Don Giovanni" auf Kampnagel verschafft Erkenntnisgewinn - auch über Mozart

 

Gut und Böse war einmal: Im Spiel der Masken und der Puppen, im Theaterzauber des Barock, in der immer wieder gleichen Versuchsanordnung der Commedia dell'arte. Seit Mozarts Opernrevolution aber gilt's dem Rein-Menschlichen: Die schablonierten Rollentypen passen nicht mehr, die da oben auf der Opernbühne sind gerade so wie wir: leidenschaftlich und langweilig, witzig und banal, betrügerisch und betrogen. Mozarts Don Giovanni, die Oper aller Opern, ist die Feier dieser Menschenkunst. Andreas Bodes Inszenierung, die am Donnerstag auf Kampnagel Premiere hatte, vertraut ihr keineswegs blind, sondern mit poetischem Feingefühl, mit Weitblick und zartem Humor. Sie schenkt seinen musikalisch so unendlich facettenreichen Figuren jenen Raum der Freiheit, den sie zum Atmen und Weinen, zum Lachen und Lieben brauchen.
Das Bild, das Bode und sein Bühnenbildner Michel Schaltenbrand hierzu ersonnen haben, ist so schlicht wie genial: Eine üppige Blumenwiese - laut duftende Lilien, unschuldig wie die Mutter Jesu, dominieren darin. Ein Laufsteg trennt den Paradiesgarten in zwei Hälften, führt zudem hinauf zum Publikum und zum Ensemble Resonanz, das als Elf-Mann-Kombo Mozarts Orchestersatz in mal trostlos vergeigter, mal grandios komprimierter Verwesentlichung spielt. Was wir da erblicken, strahlt eine gleichsam vorzivilisatorische, ästhetisch reine Kraft aus, die dem Personal des Don Giovanni zu verblüffend selbstverständlicher Entfaltung seiner selbst verhilft. Noch nie so genau hat man etwa die Zerlina kennengelernt. Zu Anfang ein Püppchen, ein locker flockig kicherndes Babe, das durch den Verführer Giovanni keineswegs schuldig, sondern vielmehr ihrer selbst bewußt wird. Im nur von Gitarre und Flöte umschmeichelten Duett "Là ci darem la mano" beginnt dieser Prozeß, in "Batti, batti" und "Vedrai, carino", das sie direkt an Giovanni richtet, wirkt sie schon gewandelt, gereift. So groß ist ihre Treue. Olivia Stahn bringt diese Frauwerdung stimmlich berührend zum Ausdruck.
Die Donna Anna der Evelina Dobraceva ist dagegen die statischere, ins Korsett gezwungene große Liebende und opernsüß bitterlich Weinende, deren feminines Freiheitspotential sie allein vokal ausschöpft. Aber wie: eine fulminante Stimme, die ihre lyrische Emphase mit dramatischem Aplomb weitet. Donna Elvira, die verzweifelte, weil verlassene Zicke, ist in Gestalt von Catrin Kirchner eine traumatisierte Hysterikerin, ein gefallener Engel, eine gebrochene Blume aus dem Garten Eden von verstörender Heutigkeit. Ein unerhört authentisches, psychologisch tiefenscharfes Rollenporträt, zu dem Dirigent Titus Engel auf dem Höhepunkt ihrer Koloraturen einen klug dekonstruktivistischen Querverweis auf Mozarts große Frauengestalten Konstanze und Pamina beisteuert: "Ach, ich liebte..."
Etwas blasser die Herren: Jung Kee Ahn als schönstimmiger, spießiger Schwächling Ottavio, Lars Grünwoldt als leichtgewichtiger Leporello, Till Schulze als staksiger Masetto und Dong-Won Seo als adäquat orgelnder Komtur. Daniel Ochoa aber gibt einen vokal virilen Giovanni-Latin-Lover mit unendlichen Zwischentönen und heldischen Reserven. Jenseits des stereotypen Verführers gewinnt er ihm anarchistische, liebesmüde, lebenssatte, dem Tode geweihte Seiten ab.
Wenn sich das Musiktheater letztlich von der Oper durch die Fragestellung scheidet, warum Menschen sich denn singend verständigen, dann wird sie hier beantwortet: Mozarts oft dröge Rezitative verwandelt Titus Engel in einen Sprechgesang von seltener Wahrhaftigkeit. Allein eine Gitarre umspielt den italienisch gesungenen Text, der uns wunderbar nahe kommt. Ganz wie die Blumenkinder, deren Vermögen zur Utopie sie alsbald ins verlorene Paradies zurückführen mag. Mit Kleist scheint uns Andreas Bode zu fragen: "Müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?"
Peter Krause

 

...Donna Elviras eindrucksvoll stöckelbeschuhter Haßauftritt...(Marcus Stäbler, Hamburger Abendblatt, 1.12.2005)